«Das Publikum will uns verletzlich sehen»
Die US-Musikerin Brandi Carlile veröffentlicht am 2. Oktober ihr drittes Album. Im Gespräch erzählt sie von ihrer Zusammenarbeit mit ihrem Idol Elton John und warum es sie nicht interessiert, wie viele Alben sie verkauft.
Brandi, Ihr neues Album heisst «Give Up The Ghost». Was ist die Geschichte hinter dem Titel?
Es ist eine Redewendung, die häufig für «sterben« gebraucht wird. Viele Menschen glauben aber, dass Sterben nur ein Übergang ist. Somit bedeutet «to give up the ghost» auch, einen grossen Wandel durchzumachen. Das fanden wir für den Titel angemessen.
Was für einen Wandel haben Sie durchgemacht?
Wir alle – Tim, Phil und ich – haben verschiedene Instrumente gelernt. Wir haben richtig hart an diesem Album gearbeitet, über ein Jahr lang. Für «The Story» verbrachten wir nur elf Tage im Studio. Das neue Album ist für uns also eine grosse Sache.
Für den Song «Before It Breaks» sollen Sie im Studio neun Stunden am Klavier verbracht haben.
(lacht) Ja, genau. Der Song hat einen bestimmten Takt. Ich wusste, wie er klingen muss, aber ich konnte niemandem erklären, wie er ihn zu spielen hat. Dass ich selber dafür sehr lange brauchen würde, war mir klar. Ich bin schliesslich nicht die beste Klavierspielerin der Welt. Aber am Ende war es perfekt. Ich liebe den Song. Er gehört zu meinen Favoriten des ganzen Albums.
Welche anderen Songs mögen Sie besonders?
Ich liebe «Caroline», weil ich dafür mit Elton John zusammenarbeiten konnte.
Haben Sie ihn schon vorher gekannt?
Nicht wirklich. Er rief mich einmal an und bedankte sich für etwas, das ich über ihn zur “New York Times“ gesagt habe. Das hat mich umgehauen! Aber ich hätte mir nie erträumt, dass er Ja sagen würde, auf meinem neuen Album zu spielen. Ich habe ihn einfach angerufen und darum gebeten. Und er sagte zu.
Ihr letztes Album, «The Story», ist in den USA vor zweieinhalb Jahren erschienen. Seither spielen Sie live schon viele Ihrer neuen Songs. Könnte es da nicht passieren, dass niemand mehr «Give Up The Ghost» kauft?
Guter Punkt, aber es kümmert mich nicht. Ich glaube, dass Musik ihr eigenes Leben hat. Und unsere Musik lebt dadurch, dass wir sie live spielen.
Sie interessiert es nicht, wie viele Alben Sie verkaufen?
Natürlich interessiert es mich auf einer gewissen Ebene. Letzten Endes weiss ich aber, dass ich nicht darum Musik mache. Ich habe damit angefangen, um ein Ventil für meine Gedanken zu haben. Wenn ich also einen Song zurückbehalten würde und meine Gefühle nicht ausdrücken könnte, nur damit die Leute das Album kaufen, warum sollte ich dann überhaupt Musik machen?
Ihre Gefühle sind ein wichtiger Teil der Songs. Gibt es auf dem neuen Album einen Song, der besonders persönlich ist?
Der wahrscheinlich persönlichste Song heisst «That Year». Er handelt von einem Selbstmord eines befreundeten Teenagers, als ich im selben Alter war. Für mich ist es schwierig, den Song zu hören und zu sehen, wie er plötzlich ungeschützt in der Welt steht.
Aber Sie haben ihn nicht damals geschrieben.
Nein. Damals hatte ich eine sehr beschränkte Sichtweise, warum sich das jemand antun würde. Ich konnte nicht damit umgehen. Ich glaubte, er hätte das mir angetan. Und dann, zehn Jahre später, habe ich diesen Song geschrieben. Damit habe ich meinem Freund auf meine Art vergeben.
Ist es nicht schwierig, einen solch persönlichen Song vor einem grossen Publikum zu spielen?
Wissen Sie was? Es ergibt Sinn, ihn live vor einem Publikum zu spielen oder jetzt mit Ihnen darüber zu sprechen. Aber es fühlt sich nicht natürlich an, ihn auf ein Album zu packen, damit ihn jemand zu sich nach Hause nehmen und interpretieren kann, wie er will.
Solch stille Songs oder Unplugged-Titel könnten im Lärm des Publikums leicht untergehen.
Das ist auch schon passiert. Aber das ist es, was Spannung erzeugt bei einem Liveauftritt: das Gefühl, dass etwas schief gehen könnte. Die Leute wollen nicht sehen, wie wir einfach das Album live nachspielen. Sie wollen uns verletzlich sehen und wie wir Risiken eingehen.
Sie sind nonstop auf Tournee mit den Zwillingen Tim und Phil Hanseroth, die zu Ihrer Band gehören. Ihre Familie sehen Sie dafür selten. Sind die Zwillinge für Sie genauso ein Teil der Familie?
Ganz klar, ja. Wir werden sogar immer mehr zu einer richtigen Familie. Phil ist seit vier Jahren mit meiner Schwester zusammen. Sie haben ein Haus gekauft, etwa eine Meile von meiner Haustür entfernt. Und erst letzte Woche hat Tim auch ein Haus in der Nähe gekauft. Wir verbringen jede Weihnacht, jedes Erntedankfest zusammen. Wir teilen quasi die Familie.
Letzte Frage: Die erste Single von «Give Up The Ghost» heisst «Dreams». Was sind Ihre Träume für die nahe Zukunft?
An diesem Punkt in meinem Leben fühle ich mich einfach verpflichtet, meine Musik vor einem Publikum zu spielen, egal wo. Wenn mich die Leute in einer Bar hören wollen, dann werde ich dort spielen. Wenn sie mich in einer grossen Arena hören wollen, dann ist das der Ort, an dem ich spielen werde.
Zur Person
Brandi Carlile, 28, stammt aus dem US-Bundesstaat Washington und wuchs in der Nähe von Seattle auf, wo sie auch heute noch lebt. Künstler wie Johnny Cash und Freddie Mercury inspirierten sie zu ihrer eigenen Musik. Ihr erstes, nach ihr benanntes Album erschien 2005 in den USA. Das zweite Album, «The Story», erschien 2008 auch in Europa. Rick Rubin, der 2009 als «Produzent des Jahres» mit einem Grammy geehrt wurde, produzierte ihr neues Album «Give Up The Ghost».
Jahr: 2009
erschienen auf www.tagesanzeiger.ch