Plötzlich anders
Episoden einer demenzkranken Frau, die an einem einzigen Tag ihre Vergangenheit und Zukunft verlor
Frau Wanner weiss genau, wie das im nächsten Frühling ablaufen wird. Prinz William und seine Kate werden sich das Ja-Wort geben, und die EPA wird wieder voll sein. Das ist immer so bei solch grossen Ereignissen. Die Kunden werden in den Laden stürmen und um einen Platz vor den Fernsehern kämpfen. «Schliesslich hat nicht jeder einen zuhause stehen.» Ja, Frau Wanner weiss, wie das Leben in der EPA funktioniert. Schliesslich arbeitet sie seit nunmehr 37 Jahren dort.
Frau Wanner ist fast 77 Jahre alt. Das weiss sie nicht.
Es ist Anfang November. Frau Wanner legt die Zeitung, in der Prinz Williams Hochzeit angekündigt wird, zur Seite. Sie sitzt auf einer der rotgepolsterten Holzbänke im langen, gelbschimmernden Flur, ihr Rücken wird von Kissen mit Blumen- und Sternenmustern gestützt. Im Flur ist es ein paar Grad wärmer, als es zu dieser Jahreszeit angenehm ist. Sie ist hier nicht in den Ferien, wie sie glaubt, und wird auch nicht mehr zu ihrer Arbeit in die EPA zurückkehren. Sie wohnt hier, an diesem Ort, der Lindengarten genannt wird. Er ist die geschlossene Abteilung für Demenzkranke im Dreilinden, einem Betagtenzentrum in Luzern. Frau Wanner sitzt Tag für Tag auf dieser Holzbank. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, in der immer wieder Bruchstücke ihres einstigen Lebens aufblitzen.
Vor neun Jahren hat sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen für immer verändert. Genauer gesagt, am 18. November 2001. Es ist der Tag, der Frau Wanner still werden lässt, wenn sie darauf angesprochen wird. Sie erinnert sich nicht an ihn. Ihre Tochter Sandra Troxler umso mehr. Martina und Angela, Frau Wanners Enkelinnen, hatten an diesem Sonntag versucht, ihre Grossmutter anzurufen, wie sie es fast täglich taten. Doch sie nahm den Hörer nicht ab. Immer wieder versuchten sie es. Schliesslich riefen sie Sandra Troxler auf dem Handy an. «Grosi nimmt das Telefon nicht ab. Da stimmt doch etwas nicht.» Gegen halb sieben versuchte Sandra Troxler, ihre Mutter zu erreichen. Erfolglos. Sie stiegen ins Auto und fuhren von Brienz nach Luzern, schlossen die Wohnung auf. Die Küche war leer, das Wohnzimmer war leer, das Schlafzimmer auch. Sie gingen ins Badezimmer. Und da lag sie, auf dem Kachelboden, mit einem Handtuch auf dem Kopf und einem über der Brust. Sie trug noch immer ihren Pyjama. Sie war bei Bewusstsein, eine körperliche Verletzung war nicht sichtbar. Ihren Namen und ihr Geburtsdatum konnte sie noch sagen. Doch etwas ging an diesem Tag kaputt.
Der Duft von Desinfektionsmittel hängt in der Luft. Frau Wanner sitzt auf ihrer Bank im Flur und wühlt in einer schwarzen Handtasche aus Kunstleder, beide Henkel fehlen. Schritte hallen matt vom Linoleumboden wider. Sie schaut auf, und ihr Blick fällt auf eine Frau, die dieselben dunklen Augen hat wie sie. Frau Wanner lächelt.
«Hoi Mueti», begrüsst Sandra Troxler ihre Mutter.
Gemeinsam spazieren sie in die Cafeteria des Dreilindens. Sie bestellen Tee und Kaffee und setzen sich an einen der freien Tische. Nach knapp zehn Sekunden zieht Frau Wanner ihren Pfefferminzteebeutel aus dem heissen Wasser.
«Bald hast du Geburtstag, Mueti», sagt Sandra Troxler und beisst in ihr Meitschibein.
«Geht noch eine Woche.»
«Noch ein wenig länger, drei Wochen.»
«Dann ist man wieder ein Jahr älter», und Frau Wanner lacht.
«Jahrgang 33. 77 Jahre jung, stimmts, Mueti?»
Frau Wanner schweigt.
Sandra Troxler greift zur Handtasche ihrer Mutter und mustert diese erstaunt.
«Wo sind denn die Henkel?»
«Die sind zuhause, Sandra», antwortet sie bestimmt.
«Bist du sicher, dass sie nicht in der Tasche sind?»
«Da habe ich schon geschaut.»
In Frau Wanners Zimmer sucht Sandra Troxler in der Nachttischschublade nach den Henkeln der Handtasche, ohne Erfolg.
«Bist du sicher, dass sie nicht in der Tasche sind?»
«Ja.»
«Ich schau trotzdem nochmals nach, ja?» Sandra Troxler nimmt Papiertaschentücher und ein Fotoalbum aus der Handtasche und legt sie aufs Bett. Nach einem kurzen Moment zieht sie zwei Riemen aus Kunstleder heraus, beide an ihren Enden zerfetzt. Sie lächelt matt.
Von einer Stunde auf die nächste war ihre Mutter eine andere. Sandra Troxler musste lernen, damit zu leben. «Es war schlimm», sagt sie. Auch weil sie Einzelkind ist. Die Verantwortung für ihre Mutter lastete nun allein auf ihr. Frau Wanners Demenz kam ohne Warnung. «Natürlich hat sie zwischendurch einmal etwas vergessen, aber das tun wir doch alle.» Auch für die Enkelinnen waren der 18. November 2001 und seine Folgen prägend. «Meine Töchter haben sehr an ihr gehangen und hatten einen guten Draht zu ihr.» Auf einmal war diese Beziehung gestört. Frau Wanner erkennt ihre Verwandten zwar noch, aber verwechselt sie auch immer wieder. «Wenn ich sie mit einem meiner Grosskinder besuche, glaubt sie manchmal, dass es mein Kind sei.» Am Anfang der Krankheit, von November 2001 bis Sommer 2002, fuhr Sandra Troxler dreimal in der Woche von Brienz nach Luzern und wieder zurück. Heute kommt sie jeden Samstag in den Lindengarten, alleine, mit ihrem Mann oder ihren Töchtern.
Eine Pflegerin bückt sich zu Frau Wanner und ihrer Bank hinunter.
«Wir gehen jetzt dann gleich zum Coiffeur.»
«Ich kann zu Fuss gehen. Ich muss nicht das Auto nehmen», entgegnet Frau Wanner.
«Wir gehen mit dem Lift.» Die Pflegerin verschwindet ein paar Minuten und kehrt dann zurück.
«Gehen wir, Frau Wanner? Zum Coiffeur?»
«Wer, Sie?»
«Nein, Sie.»
Die Pflegerin hilft Frau Wanner von der Bank hoch, und gemeinsam spazieren sie zur Tür, die zu den Aufzügen führt. Sie schliesst die Tür auf und will Frau Wanner den Vortritt lassen, doch diese verharrt auf der Stelle.
«Wir müssen noch auf die Coiffeuse warten.»
«Sie ist schon oben.»
«Nein, ich habe sie hier gerade gesehen.» Die Pflegerin überlegt einen Moment.
«Aha. Sie weiss schon, wo wir hingehen.»
«Wir schneiden ein wenig», sagt die Coiffeuse, die einen Stock weiter oben auf Frau Wanner wartet.
«Eigentlich nicht, nein», entgegnet diese.
«Doch, das haben wir letztes Mal abgemacht.»
«Aber nicht zu kurz.»
Die Coiffeuse hilft ihr, Platz zu nehmen, und beginnt mit ihrer Arbeit. Sie legt Frau Wanner ein Handtuch um den Nacken, rollt das Waschbecken näher und legt den Kopf vorsichtig nach hinten. Der Wasserstrahl tränkt die wenigen Haare binnen kurzer Zeit. Die Coiffeuse schneidet die Spitzen, dreht die Lockenwickler ins Haar und stülpt die Trockenhaube über den Kopf. Frau Wanner blättert in der «Freizeitrevue». Darin betrachtet sie einen Mann mit braunem, lockigem Haar.
«Kennen Sie den?», fragt die Coiffeuse.
«Nein», antwortet Frau Wanner und blättert die Seite mit Roger Federers Bild weiter.
Sechzehn Wochen lang lag Frau Wanner vor neun Jahren im Krankenhaus. Was an diesem 18. November geschehen war, konnten die Ärzte nie genau feststellen. Sie vermuteten einen Sauerstoffmangel. Wenn eine Demenz so plötzlich eintritt, bedeutet dies aber nicht, dass sie aus dem Nichts kommt. Ein so genanntes Frontallappensyndrom, das bei ihr diagnostiziert wurde, schreite normalerweise langsam voran, erklärt Dr. Julia Zurmühle, heute Frau Wanners behandelnde Ärztin. «Eine Durchblutungsstörung hat die Demenz vermutlich beschleunigt, sie mit einem Sprung sichtbar gemacht.» Für ihre Familie machte es keinen Unterschied: Frau Wanner hatte ihre Vergangenheit und Zukunft verloren, für sie gab es fortan nur noch den Moment.
«Wo ist der Herr?»
Frau Wanner schaut von der Zeitung auf. Vor ihrer Bank steht Frau Anderegg, eine andere Bewohnerin des Lindengartens. Ihre dunkelgrauen Haare kleben an ihrem Gesicht, ihre zusammengekniffenen Augen fixieren Frau Wanner.
«Wo ist der Herr?», wiederholt Frau Anderegg langsam.
«Wer?», fragt Frau Wanner in scharfem Ton.
«Herr Anderegg.»
«Weiss ich doch nicht, geht mich nichts an», faucht sie und vertieft sich wieder in ihre Zeitung. Frau Anderegg geht ein paar Schritte, doch bleibt sogleich wieder stehen und schaut Frau Wanner mit leerem Blick an.
«Wer hat mich hierhin gebracht?», fragt sie jetzt.
Frau Wanner blättert weiter.
Eine Situation wie diese, sagt Yves, ein Pfleger im Lindengarten, hätte Frau Wanner früher in Rage gebracht. Damals, als ihre Medikamente noch nicht richtig dosiert waren. Enthemmung gehöre zu den Symptomen des Frontallappensyndroms, Frau Wanner werde aggressiv. Wie vor etwa einem Jahr, erzählt Yves, als sie mit Kleiderbügeln auf Mitbewohnerinnen und Pflegerinnen losgegangen war und gerufen hatte «Warum hast du wieder gelästert!». Deswegen wurde sie auch in der geschlossenen Demenzabteilung untergebracht: Ohne Aufsicht ist sie für sich und andere eine zu grosse Gefahr. Sichtbare Unterschiede zu den anderen Demenzkranken, bei denen der Gedächtnisschwund schleichend kam, gibt es nicht, sagt Yves. Im Vergleich zu ihnen scheint Frau Wanner auf den ersten Blick noch mehr bei Verstand zu sein, von allen geistig am gegenwärtigsten. Wenn man dann aber mit ihr spricht, sagt Yves, merkt man schnell, dass dies nicht der Fall ist. Zum Beispiel wenn sie erzählt, gerade Teddybären und Barbiepuppen in die Regale der EPA geräumt zu haben, die seit 2002 nicht mehr existiert.
Heute, an ihrem Tag, sitzt Frau Wanner nicht auf ihrer Bank im Flur. Zusammen mit Sandra Troxler und deren Mann spaziert sie durchs St.-Karli-Quartier in Luzern. Hier hat sie ein Leben lang gewohnt, ihr ganzes Leben vor der Demenz. Sie betreten das Cafe Hug. Ein kleines Mädchen rennt auf Frau Wanner zu, in der Hand hält sie die Zeichnung eines Frosches. Sie streckt ihr die Zeichnung entgegen.
«Wer ist das?», fragt Frau Wanner ihre Tochter.
«Noemi, Angelas Mädchen.» Sie gehen zu viert an einen Tisch im hinteren Teil des Cafes, wo Frau Wanners Enkelinnen warten, Martina und Angela.
«Alles Gute zum Geburtstag!» Sie setzen sich, stossen mit einem Glas Prosecco an, gönnen sich Torte und Vermicelle und verteilen Geschenke: ein Parfum, eine Handcreme und einen kleinen Zwerg als Dekoration für ihr Zimmer. Sandra Troxler stellt fest, dass vier Generationen ihrer Familie am Tisch sitzen. Sie seufzt.
«Du siehst immer gleich jung aus, Mueti.»
«Ja, 90 gäbe man dir jedenfalls nicht», sagt Angela. Alle lachen.
«Wie alt bist du denn geworden?», fragt Martina. Frau Wanner beginnt von ihrem Jahrgang an zu rechnen.
«55», sagt sie schliesslich.
«77, Omi», korrigiert Martina lächelnd. «Ein schönes Alter.»
Frau Wanner schweigt.
Noemi holt Papier und Malstifte aus Angelas Tasche, legt sie auf den Tisch und beginnt zu zeichnen. Auch Frau Wanner greift nach einem Farbstift und zieht einen Strich über eines der Blätter. Langsam skizziert sie die Umrisse einer Frau, zeichnet Nase, Mund, Augen, Augenbrauen und Ohren, füllt die Lippen mit roter Farbe und lässt rote Locken von ihrem Kopf wachsen.
«Schreib doch noch deinen Namen auf die Zeichnung», sagt Martina und streichelt ihrer Grossmutter über den Arm. Frau Wanner schreibt M.W. «Den ganzen Namen.» Sie schreibt Margrit Wanner. «Und das Datum von heute.» Sie schreibt 27.11.33., ihr Geburtsdatum.
Jedes Jahr, wenn es auf den 18. November zugeht, kommt bei Sandra Troxler alles wieder hoch. Dann macht es ihr wieder mehr zu schaffen, mit der Situation umzugehen. «Im Grossen und Ganzen habe ich mich mit ihrer Demenz abgefunden.» Wenn man Todesanzeigen liest und sieht, wie jung die Leute zum Teil sterben, sagt sie, kann sie froh sein, dass sie ihre Mutter noch hat. Und trotzdem: «Sie war schon sehr jung, als es geschah.» Auch heute noch steigen Sandra Troxler manchmal Tränen in die Augen, wenn sie vom Lindengarten nach Hause fährt. Denn vielleicht, sagt sie, hätte sie all das einfacher akzeptieren können, wenn ihre Mutter erst mit 80 Jahren auf dem Kachelboden des Badezimmers gelegen hätte.
Frau Wanner sitzt auf ihrer Bank im Flur, ihre Handtasche steht neben ihr. Eine Bewohnerin mit einer Gehhilfe geht an ihr vorbei. Ihr Gesicht scheint müde und traurig. Frau Wanner schaut ihr mit mitleidigem Blick nach. «Hoffentlich werden wir nicht so, wenn wir alt sind.»
Jahr: 2011
erschienen in der «Neuen Luzerner Zeitung»